Strukturwandel durch Kohlechemie

Guido van den Berg MdL
"Man kann aus Braunkohle Interligenteres machen als nur Strom" Guido van den Berg, SPD Bild: Foto: Ruprecht Stempell
Braunkohle wird in China als Rohstoff für die Synthesegasherstellung eingesetzt. Das private Unternehmen Yitai errichtet zurzeit eine Großanlage, um daraus Diesel zu gewinnen.
Braunkohle wird in China als Rohstoff für die Synthesegasherstellung eingesetzt. Das private Unternehmen Yitai errichtet zurzeit eine Großanlage, um daraus Diesel zu gewinnen. Bild: Yitai

Als Energielieferant steht heimische Braunkohle kurz vor dem Aus. Aber sie könnte als Rohstoff für die Produktion von Basischemikalien eingesetzt werden. Wie das gehen soll? China machts vor.

„Wir wissen, dass wir alte Anlagen werden stilllegen müssen“, sagt Maria Pfordt, Bürgermeisterin der Stadt Bergheim im rheinischen Revier. In 35 Jahren will Deutschland seinen Strombedarf zu 80 % aus erneuerbaren Energiequellen decken. Fossile Braunkohle soll dann nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Bergheim beteiligt sich deshalb wie viele Städte und Gemeinden an der „Innovationsregion Rheinisches Revier“ (IRR). Die Initiative will Unternehmen aus anderen Branchen zwischen Aachen, Düsseldorf und Köln ansiedeln.

Unklar ist, wie viel Zeit bleibt. Jene, die sich eine lange Übergangszeit wünschen, haben einen Trumpf in der Hand. „Wird weniger Braunkohle verfeuert, können wir sie anderweitig nutzen“, betont Reinhold Elsen, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von RWE Power.

Zum Beispiel als Rohstoff. Dass das keine Utopie ist, zeigen viele Projekte in China. „Dort hat man vor rund 20 Jahren entschieden, die chemische Industrie von Erdöleinfuhren unabhängig zu machen“, erklärt Bernd Meyer. Der Verfahrenstechniker leitet das Institut für Energieverfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen an der TU Bergakademie Freiberg.

Er organisierte kürzlich die International Freiberg Conference in Huhhot in der Inneren Mongolei. 160 Fachleute aus 15 Ländern nahmen teil. Mitorganisator war die aus der chinesischen Akademie der Wissenschaften hervorgegangene Technologiefirma Synfuels China Technology (SCT) mit Sitz in Peking. Sie plant Anlagen zur stofflichen Kohlenutzung und hat ein eigenes Fischer-Tropsch-Verfahren entwickelt, mit dem Kohle zu Kraftstoff verflüssigt wird.

„Wir bereiten zurzeit die nächste Anlagengeneration mit bis zu zehnfacher Kapazität vor“, so Yong Wang Li, Gründer und Hauptgeschäftsführer von SCT. Diese sei auch bei niedrigem Erdölpreis in China wettbewerbsfähig.

Huhhot liegt im Zentrum eines Reviers, dessen Kohle meist zur Stromerzeugung verfeuert wird. Doch staatliche und private Firmen gewinnen daraus bereits Basischemikalien wie Methanol sowie Olefine wie Ethen und Propen – und Kraftstoffe wie Benzin und Diesel. Zwei Beispiele:

– Das Privatunternehmen Yitai betreibt eine Coal-to-Liquids-Anlage in Dalu mit einer Vergaserkapazität von 0,7 Mio. t Kohle/Jahr. Daraus entsteht Synthesegas, aus dem in einer Fischer-Tropsch-Anlage 160 000 t Diesel/Jahr gewonnen werden. Zurzeit errichtet Yitai eine Großanlage mit einer Kapazität von bis zu 1 Mio. t Diesel/Jahr.

– Das staatliche Unternehmen Meilong Rongxin vergast in Dalat bis zu 2,1 Mio. t Kohle/Jahr. „Der hier installierte Vergaser ist eine originäre chinesische Entwicklung und der größte Kohlevergaser weltweit“, erklärt Meyer. Aus dem Synthesegas entstehen bis zu 1,8 Mio. t Methanol/Jahr. Daraus will die Firma Olefine herstellen.

Ende 2015 werden nach Angaben von Wang Li in China 18 Kohlevergasungsanlagen Synthesegas liefern, aus dem ca. 1 Mio. t Benzin und 9,2 Mio. t Olefine wie Ethen und Propen pro Jahr entstehen.

Deutschland hat eine lange Tradition in der Rohstoffgewinnung aus Braunkohle

Und Deutschland? Hier lieferten bis in die 1960er-Jahre Braun- und Steinkohle Rohstoffe – im Osten sogar bis nach der Wende. Hiesige Braunkohle könnte ausreichend Kohlenstoff zur Verfügung stellen. Deutschland nutzt pro Jahr ca. 17 Mio. t aus Erdöl gewonnenes Rohbenzin für Basischemikalien wie Methanol, Ethen oder Propen. Fürs gleiche Ergebnis bräuchte es 75 Mio. t Braunkohle. Allein im rheinischen Revier fördert RWE zurzeit über 90 Mio. t/a Braunkohle, in der Lausitz gewinnt Vattenfall etwa 60 Mio. t/a.

Der Preis? Hierzulande wird 1 t Braunkohle für rund 10 € gefördert. Wird sie getrocknet, verdoppelt sich der Preis. „Die im Tiefbau geförderte Kohle der Inneren Mongolei ist vermutlich nicht kostengünstiger“, sagt Meyer – und folgert: Braunkohle könne sich in Deutschland als kostengünstiger Ersatzchemierohstoff erweisen.

Die Klimabilanz? Gemischt! Im Vergleich zur Verstromung ist die stoffliche Nutzung der Braunkohle zwar klimafreundlicher, da knapp jedes zweite Kohlenstoffatom im chemischen Produkt gebunden wird. Für den Ingenieur wäre die Braunkohlenchemie damit ideal für die Energiewende. Meyer: „Sie weist den Weg in eine Low Carbon Economy.“ Allerdings sind die CO2-Emissionen hier mehr als doppelt so hoch wie die der klassischen Chemie aus Erdöl, was auf die unterschiedliche chemische Zusammensetzung von Kohle und Erdöl zurückzuführen ist.

Die hiesigen Kohlestandorte hätten zudem einen Vorteil gegenüber China, betont Meyer: Sowohl in NRW als auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt liegen Tagebau und Chemieproduktion räumlich beieinander. Das würde die Investitionskosten um etwa ein Fünftel senken. So hält Meyer es für realistisch, „in wenigen Jahren mit einer Kapazität von mind. 0,5 Mio. t Braunkohle im Jahr in die Grundstoffproduktion für die chemische Industrie einzusteigen“.
Doch die Skepsis ist groß in Politik und Industrie. Stromerzeugern fehlen klare Rahmenbedingungen für die Kohlenutzung. Und kaum jemand hat noch Erfahrung mit Kohlechemieanlagen. Ausnahme: die TU Bergakademie Freiberg. Dort arbeiten über 100 Forscher und Techniker an hocheffizienten Kohlevergasungs- und Syntheseverfahren bis zum Pilotmaßstab.

Im Westen denkt RWE darüber nach, wieder in diese Technologie einzusteigen, nachdem sie noch vor 15 Jahren einen Kohlevergaser in Berrenrath bei Köln abgebaut hatten.

China übernimmt Technologieführerschaft

Chinas Chemiefirmen vertrauen für ihre Kohlechemie auf das Know-how deutscher Firmen wie Linde, Air Liquide oder Thyssen Krupp. Nun aber bieten chinesische Firmen eigene Technologien auf hohem Niveau an -etwa die Kraftstoffsynthese von Synfuels China aus Peking oder die Vergasungstechnik der ostchinesischen Universität für Wissenschaft und Technik (Ecust) in Schanghai. Dabei hatten deutsche Forscher vor rund 100 Jahren die Technologien zur Verflüssigung von Kohle entwickelt.

– Bei der direkten Kohleverflüssigung wird Kohle in einem Schritt zu Kohlenwasserstoffen umgewandelt. Die Kohle wird dabei in Gegenwart von Wasserstoff bei etwa 300 bar erhitzt. Es entsteht Koks und als Nebenprodukt ein Öl, das Kohlenwasserstoffe enthält, aus denen sich Diesel oder Benzin gewinnen lassen. Die Grundlagen dafür schufen Friedrich Bergius und Matthias Pier im Jahr 1913.

– Bei der indirekten Kohleverflüssigung werden Kohlenwasserstoffe aus Kohle in zwei Schritten gewonnen. Erst wird die Kohle bei über 1000°C mit Sauerstoff zu Synthesegas umgesetzt. Dann werden aus diesem Gas neben Benzin, Diesel und Heizöl auch Ammoniak, Methanol. Olefine und Aromate für die chemische Industrie umgewandelt. Die Basis hierfür beschrieben Franz Fischer und Hans Tropsch 1925 in Mülheim an der Ruhr.

Interview von Ralph H. Ahrens in den VDI-Nachrichten Nr. 27/28-2015, Seite 15 vom 03.07.2015 mit Guido van den Berg:

„Deutsche Überheblichkeit ist nicht angesagt“

Eine stoffliche Nutzung der Braunkohle macht die chemische Industrie unabhängig von Erdölreserven. Darauf baut China – mithilfe deutscher Technik. Guido van den Berg, Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in der Enquetekommission zur Zukunft der Chemischen Industrie in NRW, hat die Produktion von Synthesegas aus Kohle in China genau beobachtet

  • VDI nachrichten: Herr van den Berg, Sie haben kürzlich in China
    Kohlevergasungsanlagen besuchen dürfen. Was haben Sie gesehen?

    Ich war beeindruckt. Es wird in anderen Dimensionen geplant und gebaut. Ich habe in der Inneren Mongolei großtechnische Kohlevergaser im Volllastbetrieb besichtigt, wie es sie in Deutschland allenfalls in kleinen Dimensionen gibt. Das war auch ein Stück beängstigend: Es zeigt, wie klein wir Europäer sind.

  • Aber die Techniken stammen doch aus Deutschland?

    Ja, doch Chinesen haben sie weiterentwickelt. Und: Sie bieten ihre Kompetenz anderen selbstbewusst an. Deutsche Überheblichkeit ist nicht angesagt – eher Kooperationswille auf Augenhöhe.

  • Warum sollte Braunkohle in Deutschland – und speziell in NRW – stofflich genutzt werden?

    Es lohnt sich zu fragen, ob man aus Braunkohle Intelligenteres machen kann als nur Strom. Wird Braunkohle stofflich genutzt, wird etwa die Hälfte des Kohlenstoffs nicht als CO2 frei, sondern in chemischen Produkten eingebunden.

  • Wollen Sie also Braunkohle auch noch in 50 Jahren abbauen?

    Klar ist, ich will keine Renaissance der Braunkohle in ihrer bisherigen Nutzung. Mein Ziel ist eine Low-Carbon-Technologie, die auch exportfähig ist und so weltweit Beiträge zum Klimaschutz liefern kann. Allein die rund 3 Mrd. t Braunkohle, deren Abbau im Tagebau in NRW bereits genehmigt ist, könnten die deutsche Chemie locker bis 2050 mit ausreichend Kohlenstoffatomen versorgen.